Senioren trainieren für die Wissenschaft: Johann-Heermann-Haus nutzt Computerspiel zur Sturzprophylaxe

Zufrieden nach getaner Arbeit: Reinhard Grotz und Ergotherapeutin Sarah Eisner. Foto: Diakonie Gütersloh

Bielefeld-Brackwede, 16. März 2020. „Ich freue mich, dass ich so einen Blödsinn noch mitmachen kann.“ Reinhard Grotz hat Spaß am digitalen Gesundheitstraining im Evangelischen Altenzentrum Johann-Heermann-Haus (JHH). Eine Spiele-Konsole, die „memoreBox“, soll helfen, Stürzen vorzubeugen und geistig beweglich zu bleiben. Der 99-jährige Brackweder beteiligt sich damit automatisch an einer Pilotstudie. Denn das JHH ist eins von hundert Seniorenzentren bundesweit, in denen das computergesteuerte Bewegungsspiel nun wissenschaftlich erprobt wird. In Bielefeld ist es das einzige.

Seit Oktober 2019 nehmen zehn Senior*innen aus der Einrichtung des Diakonieverbands Brackwede an der Studie teil. Fünf spielen aktiv mit. Die anderen gehören zur passiven Vergleichsgruppe. Weitere Bewohner*innen oder auch Angehörige dürfen ihr Geschick ebenfalls erproben. Sie werden aber nicht in der Statistik erfasst, wie Ergotherapeutin Sarah Eisner erläutert. Sie begleitet das Projekt im JHH zusammen mit einer Pflegefachkraft.

 

Manche schauen einfach gern zu

Die Digitalisierung hat also wieder ein Stück mehr Einzug in die Altenzentren der Diakonie gehalten. Ziel des Spielens mit der memoreBox ist es, durch regelmäßiges Training – dreimal wöchentlich für je eine Stunde – körperliche und geistige Fähigkeiten zu fördern. Außerdem hoffen die Entwickler, dass auch die Teilnehmenden mehr miteinander oder auch mit den Betreuern und den Zuschauern ins Gespräch kommen. „Forschungsergebnisse zeigen, dass sich die therapeutische Wirkung verstärkt, wenn mehr Spaß und damit auch mehr Motivation im Spiel sind“, sagt JHH-Einrichtungsleiter Achim Jung. „Daher waren wir daran interessiert, die Box in unserer Einrichtung zu nutzen.“

  

Senior steuert seinen Avatar

An diesem Nachmittag beobachten zwei Bewohnerinnen bei Kaffee und Keksen, wie Reinhard Grotz sich als Postbote versucht und mal mehr, mal weniger erfolgreich von einem virtuellen Fahrrad aus Post in Briefkästen wirft. In Wirklichkeit sitzt er auf einem Stuhl vor einem großen Bildschirm. Dieser ist mit der memoreBox verbunden. Eine Kamera erfasst Reinhard Grotz‘ Bewegungen und überträgt sie auf die Figur im Computerspiel, seinen Avatar.

 

Mit dem Motorrad zum Herkules-Denkmal in Kassel

Am liebsten fährt Reinhard Grotz virtuell Motorrad. Er ist auf der Autobahn unterwegs. Sein Ziel: das Herkules-Denkmal. Doch wo befindet es sich? Der Senior muss schnell entscheiden, denn gleich kommt die Abfahrt. Fährt er weiter nach Berlin oder zweigt er ab in Richtung Kassel? Vor dem Bildschirm sitzend ahmt er die Bewegung eines Motorradfahrers nach, der sich in die Kurve legt. Genau rechtzeitig, um die Ausfahrt ohne Crash zu nehmen. Und sein Avatar tut, was er will.

 

Tanzen und Tischtennis im Programm

Andere Übungsangebote mit der memoreBox sind „Tanzen“ – das kommt bei den Frauen besonders gut an –  Kegeln, Singen oder auch Tischtennis. Letzteres ist jedoch für manche älteren Menschen eine Herausforderung. Denn sie müssen schnell reagieren, können aber häufig den Ball nicht mehr so gut sehen. Eine Erkenntnis, die Sarah Eisner an die Wissenschaftler weitergibt. „Außerdem fällt auf: Wer bereits regelmäßig an sonstigen Gymnastik-Angeboten teilnimmt, der ist aufgeschlossener für das Training mit der memoreBox.“ Männer zeigten zudem größeres Interesse, „vermutlich weil es um Technik und neue Medien geht.“

 

Den Hauptgewinn der Klassenlotterie gezogen

Reinhard Grotz macht regelmäßig mit beim Zusatz-Training mit der Spielekonsole. Das hat auch damit zu tun, dass er schon in seiner Sturm-und-Drang-Zeit Motorrad gefahren ist. Als er 18 Jahre alt war, zog er zusammen mit einem Freund den Hauptgewinn der Norddeutschen Klassenlotterie, 20.000 Reichsmark. Von seinem Anteil kaufte er sich eine DRW NZ 250. Ein Heidenspaß war das, bis er mit 35 aufs Auto umstieg – „die Kinderzahl war inzwischen zu groß geworden.“

 

Chancen der Digitalisierung genutzt

Entwickelt wurde die Spiele-Konsole von der Firma RetroBrain aus Hamburg zusammen mit Experten aus Wissenschaft, pflegerischer Praxis und Spiele-Entwicklung (siehe Infokasten). Das Start-up stellte dem JHH die Spielekonsole zur Verfügung. Der Bildschirm gehört dem Altenzentrum.

Zwischenergebnisse liegen noch nicht öffentlich vor, aber in Brackwede ist man bereits zufrieden: „Wir haben mit der Kombination aus fest geplanten Gymnastik-Angeboten und dem zusätzlichen Projekt ,memoreBox‘ sehenswerte Fortschritte hinsichtlich Beweglichkeit und geistiger Mobilität festgestellt.“

„Wir sehen deutlich Chancen der Digitalisierung bei der therapeutischen Arbeit mit älteren Menschen“, so Achim Jung. „Dies ist eine großartige Möglichkeit, Bewegung, Gemeinschaftserleben und Gesundheitsvorsorge in der therapeutischen Arbeit mit hochbetagten Menschen zu verbinden. Sehr gern werden wir die Box auch nach dem Ende der Versuchsreihe weiter nutzen.“

 

Infokasten

2016 startete eine Pilotstudie zur Evaluierung des computerbasierten Trainingsprogramm memoreBox in (teil-)stationären Pflegeeinrichtungen. Sie wird getragen vom Institut für Rehabilitationsforschung und neue Medien der Humboldt-Universität zu Berlin, der BARMER und dem Startup-Unternehmen Retro Brain R&D GmbH aus Hamburg als Hersteller und Entwickler der Spielekonsole. Derzeit läuft die zweite Phase der Studie. Bis Ende 2020 stehen die Wünsche und Bedürfnisse der beteiligten, oft chronisch kranken Senior*innen im Mittelpunkt. Getestet wird unter anderem, wie gut eine weibliche virtuelle Ansprechpartnerin bei den Probanden ankommt. Insgesamt nehmen 887 Personen an der Studie teil, davon 630 Frauen. Der Altersdurchschnitt liegt bei 83 Jahren, der Pflegegrad im Mittel bei 3.