In unserem öffentlichen Raum wurden Kontaktbeschränkungen wieder hochgefahren. Die Politik ruft Bürger*innen auf, soziale Kontakte auf das Nötigste zu beschränken. Mehr als 7.000 Menschen befinden sich in Quarantäne. Andere Bundesländer verhängen Einreisebeschränkungen oder gar -verbote für Einwohner der Kreise Gütersloh und Warendorf. Die Gefahr des Corona-Virus ist gerade wieder allgegenwärtig – und so schwer die Einschränkungen im persönlichen Leben fallen, sind sie doch allemal verständlich und sinnvoll. Viel hängt nun davon ab, ob bei den aktuell laufenden Reihentestungen ein Übersprung des Virus auf die Menschen außerhalb von Tönnies zu beobachten ist. Diese Tests sind gerade erst angelaufen, nur wenige Ergebnisse liegen bisher vor. Deswegen ist es noch völlig offen, ob ab der kommenden Woche wieder Lockerungen zu erwarten sind – oder ob das Gegenteil eintritt.
Und trotz dieser ungewissen Lage ist eine Gruppe von diesen Vorsichtsmaßnahmen ausgenommen: nämlich die der pflegebedürftigen Bewohner*innen von Pflegeheimen und -wohngemeinschaften. Im Gegenteil: Pflegeeinrichtungen müssen sogar Lockerungen umsetzen. Das muss man sich einmal vorstellen. Da werden in Verl-Sürenheide ganze Straßenzüge abgeriegelt. Nicht weit weg steht ein Pflegeheim der Caritas. Und während also in unmittelbarer Nähe Menschen in der Einhaltung der Quarantäne kontrolliert werden, werden für alle Pflegeeinrichtungen in NRW – und damit auch für besagtes Altenheim in Verl und alle anderen Pflegeeinrichtungen im Kreis Gütersloh – Lockerungen verkündet.
Als Freie Wohlfahrtverbände, die wir mit mehreren tausend Mitarbeitenden noch mehr Menschen im Kreisgebiet pflegen und versorgen, sagen wir: Das ist nicht nur paradox, sondern unverantwortlich und gefährdet Menschenleben.
Bis zum gestrigen Mittwochabend hing die Altenpflege in der Luft. Waren auch für uns Einschränkungen angedacht? Sollten wir die am Wochenende veröffentlichten Lockerungen des Landes, die eine weitere Öffnung der Pflegeeinrichtungen zur Folge haben, in Gänze umsetzen? Mit keinem Wort wurde die Pflege in den vergangenen Tagen von der Landespolitik bedacht – von den geplanten Reihentestungen einmal abgesehen. Gestern am späten Abend erhielten wir dann die Nachricht, dass die Lockerungen gemäß der entsprechenden Allgemeinverfügung umzusetzen sind. Das Landesgesundheitsministerium vertritt nach eigenen Angaben die Auffassung, dass mit Blick auf die Allgemeinverfügung „derzeit keine Abweichungen für das Gebiet des Kreises Gütersloh erforderlich sind“. Was heißt das?
- Ab sofort dürfen Bewohner in Begleitung Pflegeeinrichtungen für sechs Stunden verlassen und auch Restaurants und Cafés besuchen.
- Körperlicher Kontakt zwischen Bewohner und Besucher ist wieder erlaubt.
- Ab dem 1. Juli darf jeder Bewohner täglich bis zu zwei Mal für mindestens eine Stunde Besuch empfangen.
- Ab dem 1. Juli sind auch Besuche auf dem eigenen Zimmer wieder erlaubt – nur hier erwägt das MAGS eine Verschiebung des Inkrafttretens um 14 Tage.
Wir wollen nicht falsch verstanden werden: All diese Lockerungen sind an und für sich begrüßenswert. Noch vor eineinhalb Wochen hätten wir dies vollumfänglich und mit Freude begrüßt und unterstützt.
Nur: Die Situation im Kreis Gütersloh hat sich entscheidend geändert. Natürlich wissen wir noch nicht, wie sich das Infektionsgeschehen weiterentwickelt. Natürlich ist noch offen, ob und in welchem Maße sich das Virus im Kreis Gütersloh verbreitet hat.
Aber genau darum geht es: Es ist offen. Es ist unklar. Es kann alles gut verlaufen. Aber was, wenn nicht? Wollen wir erst reagieren, wenn es zu spät ist?
Warum wurden die Beschränkungen im März denn überhaupt eingeführt? Um präventiv eine Ausbreitung des Virus zu verhindern und die vulnerablen Gruppen zu schützen. Und nun haben wir diese besondere Situation im Kreis Gütersloh – mit erschreckend hohen Zahlen. Und eine dieser besonders vulnerablen Gruppen wird bei den Vorsichtsmaßnahmen komplett außen vor gelassen. Weil man hofft, dass das Virus auf einen lokalen Infektionsherd einzugrenzen ist? Trotz vieler Tests, die noch nicht ausgewertet wurden bzw. noch ausstehen.
Das kann nicht ernst gemeint sein.
Um zu wissen, dass die Sterblichkeitsrate infolge einer Infektion mit SARS-Covid-19 unter den älteren und hochaltrigen Menschen besonders hoch ist, reicht ein Blick in die Statistiken des Robert-Koch-Instituts. Natürlich sind auch die Hygiene- und Infektionsschutzkonzepte der Einrichtungen entscheidend. Und hier haben unsere Mitarbeitenden in den vergangenen Wochen mit viel Umsicht und Kompetenz Großartiges geleistet. Das zeigen auch die Zahlen. Mit den neuen Regelungen werden diese Konzepte aber ausgehebelt. Wir können nicht nachvollziehen, ob sich Menschen an die Vorgaben halten, wenn sie außerhalb der Einrichtungen unterwegs sind. Wenn ab dem 1. Juli alle Bewohner*innen einer Einrichtung zwei Mal täglich Besuche erhalten dürfen, können wir auch hier nicht kontrollieren, ob die Regeln jederzeit eingehalten werden. Dafür sind die gesetzlichen Personalschlüssel einfach zu gering.
Das heißt also: Die Einhaltung der Hygienekonzepte durch alle Beteiligten liegt nicht mehr in unserer Hand. Nicht falsch verstehen: Wir wollen keinesfalls Verantwortung von uns weg- hin zu unseren Bewohner*innen und Angehörigen schieben. Fast alle von ihnen haben viel Verständnis für die Situation und tun alles, um Infektionen in jedem Fall zu vermeiden. Und unterstützen unsere Kolleg*innen mit viel Herz, indem sie kleine Geschenke vorbeibringen und Dankeskarten schicken. Die Situation stellt auch für sie eine enorme Belastung dar, und für ihr Engagement können wir einfach nur „Danke“ sagen. Aber Fehler sind menschlich. Es reicht, dass nur einer einmal nicht aufpasst. Sich vielleicht die Hände nach dem Café-Besuch nicht desinfiziert. Den Mundschutz nicht richtig trägt. Und was passiert, wenn das Virus in eine Pflegeeinrichtung eingeschleppt wird, hat man ebenfalls im April sehr eindrücklich gesehen – rund ein Drittel der bis dato 4.600 Corona-Toten lebte in Pflegeheimen und anderen Betreuungseinrichtungen.
Ein solches Szenario im Kreis Gütersloh ist auf jeden Fall zu vermeiden. Wir fordern daher von der Landespolitik:
- ein Aussetzen der Allgemeinverfügung, bis die Zahl der Neuinfektionen mit SARS-Covid-19 auf den Richtwert von unter 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner und Woche gesunken ist
- ein Beibehalten der bis vergangene Woche gültigen Besuchsregeln mit einer Änderung: Die Einrichtung sollte nur mit Mitarbeitenden der Einrichtung verlassen werden dürfen
- eine erneute Schließung der Tagespflegen unter Beibehaltung der Notbetreuung wie es bis zum 8. Juni üblich war
- eine Berücksichtigung der besonderen Situation der Pflege in den künftigen Corona-Regionalverordnungen des Landes NRW und Klarheit für Kund*innen und Mitarbeitende der Pflege
- einen mindestens siebentägigen Vorlauf bis zur Umsetzung neuer Vorgaben. Beispiel der oben genannten Allgemeinverfügung: Sie wurde den Pflegediensten erst am Tag des Inkrafttretens (20. Juni) zu Verfügung gestellt und galt in Teilen sofort. Auch andere Verordnungen ließen nur wenig Zeit zur Umsetzung – in einem sensiblen Bereich wie der Altenpflege sollte langfristiger und umsichtiger agiert werden.
Wenn sich in einer Woche zeigt, dass das Infektionsgeschehen im Griff und rein lokal geblieben ist: umso besser. Dann waren wir umsonst vorsichtig.
Aber das gegenteilige Szenario – das möchten wir uns nicht vorstellen.
Gezeichnet
Björn Neßler (Vors. der AG Wohlfahrt, Vorstand Diakonie Gütersloh)
Julia Stegt (stv. Vors. der AG Wohlfahrt, Geschäftsführerin des Paritätischen Kreis Gütersloh)
Burkhard Kankowski (Geschäftsführer Verein Daheim)
Olaf Lingnau (Bereichsleitung Pflege Diakonie im Kirchenkreis Halle)
Ilka Mähler (Vorstand DRK Kreisverband Gütersloh)
Matthias Timmermann (Vorstand Caritasverband für den Kreis Gütersloh)
Die AG Wohlfahrt
Die AG Wohlfahrt ist eine Arbeitsgemeinschaft von sechs gemeinnützigen Wohlfahrtsverbänden im Kreis Gütersloh. Dazu gehören: der AWO Kreisverband Gütersloh, der Caritasverband für den Kreis Gütersloh, der DRK Kreisverband Gütersloh, die Diakonie Gütersloh, die Diakonie Halle sowie der Paritätische Kreis Gütersloh.