Die Brackwederin weiß genau, wie sich Panik bei einem Erbeben anfühlt. Und auch, was es mit einem macht, wenn man weit entfernt am Handy sitzt, die furchtbaren Bilder sieht und den Verwandten in der alten Heimat nicht helfen kann. 1999 hat Sevilay Inci-Kartal in Istanbul selbst das Marmara-Beben miterlebt. Damals starben allein in der Metropole am Bosporus fast 1.000 Menschen. „Ich selbst wurde nicht körperlich verletzt“, berichtet die 47-Jährige, „aber danach konnte ich lange Zeit nicht auf einem Bett schlafen, weil immer wieder diese Angst aufkam wie bei dem Beben, als das Bett so stark gewackelt hat.“
„Es kann sein, dass wir ein sekundäres Trauma erleiden“
Am 6. Februar 2023 liefen die ersten Nachrichten von den Dramen, die sich entlang der Ostanatolischen Verwerfung abspielten, in den Social-Media-Kanälen. Sofort ahnte Sevilay Inci-Kartal, was dies auch hier mit vielen Brackwederinnen und Brackwedern machen würde. „Ich habe gleich befürchtet, dass bei vielen Menschen eine mögliche sekundäre Traumatisierung stattfinden könnte. Sekundäre Traumatisierung“ meint in diesem Zusammenhang die Belastung durch das Wissen über ein traumatisches Ereignis, das einer anderen Person widerfährt oder widerfahren ist. Sie verläuft häufig unbewusst und im Hintergrund“, erklärt die psychosoziale Beraterin, und ergänzt: „Wir leben zwar weit entfernt von der Erdbebenzone. Trotzdem erfahren wir gemeinsam Schmerz und erleben ein emotionales Chaos.“
Die Fernsehbilder und Videos im Netz könnten alte Ängste wecken, weil viele Mitbürger*innen Erdbeben aus eigener Erfahrung kennen. Denkbar seien auch extreme Schuldgefühle nach dem Motto: „Ich habe es überlebt, aber die anderen nicht.“ Manchmal verbunden mit Scham darüber, einst nach Deutschland gezogen zu sein und Verwandte zurückgelassen zu haben.
„Emotionale Unterstützung kann wirklich helfen“
Konkret ist die Beratung für Menschen gedacht, welche ihre Angehörigen bzw. ihre Großfamilien bei der Naturkatastrophe verloren haben und während der Trauerphase Unterstützung und Stabilisierung benötigen. „Allein in meinem Bekanntenkreis kenne ich Menschen, die bis zu 38 Familienangehörige verloren haben“, berichtet Sevilay Inci-Kartal. „Diese sind nicht nur erschüttert, sondern fühlen sich auch gelähmt, da sie nicht einfach losfahren und helfen können.” Was dann getan werden kann? „Über so etwas muss man reden. Emotionale Unterstützung kann wirklich helfen.“
DiakonieVerband stellt Räume zur Verfügung
Da Sevilay Inci-Kartal sich bereits im Projekt „Stadtteilmütter“ engagierte, trat sie an die zuständige Stadtteilkoordinatorin Sonja Frisch heran. Diese sorgte dafür, dass die „Gespräche nach dem Erdbeben“ in den Räumen des DiakonieVerbands am Kirchweg 10 stattfinden können.
Beratungstermine nach Vereinbarung sind mittwochs zwischen 16 und 19 Uhr oder freitags zwischen 15 und 18 Uhr möglich. Kontakt: 0152-05675883 oder 0151-61872694.
„Migranten brauchen eine Identifikationsfigur“
Kurz nachdem das Projekt mit Flyern und auf Instagram beworben worden war, kamen zahlreiche Anfragen. Daher ist absehbar, dass die ehrenamtliche Beratungszeit nicht für alle Interessierten ausreicht. Sevilay Inci-Kartal sieht darin keinen Hinderungsgrund. Sie möchte die Gelegenheit nutzen, um Hemmschwellen für das Aufsuchen einer Beratung abzubauen und Betroffene gegebenenfalls an professionelle Stellen weiterzuvermitteln. „Die Tatsache, dass ich auch Türkisch spreche, hilft dabei“, sagt sie. „Denn Migranten brauchen eine Identifikationsfigur.“