„Es war und ist eine schwere Zeit für alle“, berichtet Sozialpädagogin Jaqueline Joppien. „Die Eltern sind sehr erschöpft vom Alltag, von ihren Mehrfachrollen, und die Unsicherheiten sind groß.“ 24 Stunden zusammen in einem Haushalt zu verbringen, das fordert offenbar seinen Tribut. Eltern kamen beispielsweise beim Homeschooling an ihre Grenzen. Seit Beginn der Pandemie fielen immerhin 350 bis 800 Stunden Präsenzunterricht aus, wie der Deutsche Lehrerverband berichtet. Die Tagesstruktur ging verloren und die Zeit in Sozialen Medien oder mit Computerspielen uferte aus. Auch deshalb suchten und suchen Eltern Rat bei der Erziehungsberatung. Und nicht nur getrennt lebende Paare streiten immer wieder darüber, welche Umgangs- und Verhaltensregeln für ihren Nachwuchs in Corona-Zeiten gelten sollen.
„Extreme Belastung“
Nun fragen sich Verantwortliche, was all das nach mehr als einem Jahr Pandemie für die schulische und psychische Entwicklung der Kinder bedeutet. Dazu der Leiter des Ifo-Zentrums für Bildungsökonomik, Ludger Wößmann: „Die Corona-Krise ist eine extreme Belastung für die Lernentwicklung und die soziale Situation vieler Kinder.“
Unsicherheiten und Ängste abbauen
„Wir haben es mit vielen unsicheren und ängstlichen Kindern zu tun“, beschreibt Sozialpädagogin Jacqueline Joppien die Situation. Aktuell stehe dabei die Einschulung nach den Sommerferien im Fokus. Denn wegen der Corona-Kontaktbeschränkungen haben Einführungsveranstaltungen verspätet oder in Videokonferenzen stattgefunden. Also kennen viele I-Dötze ihre künftigen Klassenlehrer*innen noch nicht; höchstens vom Foto oder vom Bildschirm, und auch die Mitschüler*innen bleiben für weitere Wochen oft unbekannte Wesen. Das kann Unsicherheiten verstärken. Natürlich gebe es ganz unterschiedliche Angebote und Erfahrungen in den Bildungseinrichtungen in Ahlen, Beckum, Oelde, Wadersloh, Diestedde oder auch Ennigerloh.
Zweitklässler im Blick
Im Blick haben die Erziehungsberater*innen aus Neubeckum auch die künftigen Zweitklässler*innen. Weil die Kleinen monatelang nicht zur Schule gehen konnten, seien viele gefühlt „in der ersten Klasse hängengeblieben“, wie Diplom-Sozialarbeiter und Psychologe Yusuf Sarim es ausdrückt. Sie müssten „das Lernen noch einmal erlernen“.
Generell kommt hinzu, dass Sportunterricht oder Training im Verein lange Zeit ausfielen. Kindern und Jugendlichen fehlte dieses wichtige Ventil, um Stress abzubauen, sagt Diplom-Pädagoge Carsten Spelberg.
Fast jedes dritte Kind zeigt Auffälligkeiten
Eine sogenannte „Copsy Studie“ des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) unter Jugendlichen und ihren Eltern ergab, dass bereits nach der zweiten Welle fast jedes dritte Kind psychische Auffälligkeiten zeigte. Dies bestätigen die Berater*innen der Erziehungsberatung Gütersloh in Neubeckum ausdrücklich. „Viele Kinder haben ihre Freunde lange nicht gesehen, haben sich selbst infrage gestellt.“
Seit Ostern wieder volles Programm
Wegen des großen Bedarfs bietet die Erziehungsberatung schon seit Ostern 2021 wieder ihr volles Programm an, darunter „sozial-emotionale Lerngruppen.“ Jetzt dürfen wieder bis zu sieben Kinder an einer Gruppe teilnehmen. Vorausgesetzt sind Masken, Abstand und Tests für alle, gemäß den Vorgaben des Landesjugendamtes beziehungsweise des RKI. Außerdem hat sich die Erziehungsberatung ihr Hygienekonzept vom Kreisgesundheitsamt absegnen lassen. In den insgesamt fast 200 Quadratmeter großen Gruppenräumen der Diakonie in Neubeckum fällt es leicht, Abstandsregeln einzuhalten. Für Gespräche sind Trennwände installiert. Außerdem gibt es eine Turnhalle und ein gut ausgestattetes Spielzimmer.
365 Tage im Jahr ansprechbar
„Wir haben sowohl in Präsenz als auch telefonisch beraten, an 365 Tagen im Jahr“, berichtet Yusuf Sarim. Dabei zeigt sich eine klare Tendenz: 98 Prozent der Klienten möchten persönlich vor Ort Gespräche führen. Demnächst soll es möglich sein, auch per Video in Kontakt zu treten.
18 Familienzentren besucht
Darüber hinaus besuchen die Psychologen, Sozial-, Diplom- und Heilpädagogen von der Erziehungsberatung Kindergärten, Schulen und 18 Familienzentren im Kreis Warendorf. Sie hospitieren – auch auf Wunsch von Lehrkräften und Erzieher*innen und beobachten dabei das Verhalten von Kindern in ihren sozialen Gruppen. Warum, das erklärt Yusuf Sarim: „Mit Kindern im Einzelkontakt ist alles easy. Bei mehreren geht es schon los. Wichtig ist es zu sehen, wie sich ein Kind in der Gruppe verhält.“
Anschließend sprechen sie mit Lehrer*innen und Erzieher*innen. Und natürlich mit den Eltern, denn diese sind die Auftraggeber. Meist führt deren Weg zur Beratung über Empfehlungen. Jeder Fall bleibt anonym – außer bei Kindeswohlgefährdungen.
Kinder treffen sich in den Ferien
In den Sommerferien bleiben die Türen der Erziehungsberatung offen: Für Grundschulkinder gib es mindestens eine Gruppe, in der sie zusammen mit/angeleitet von dem Diplom-Pädagogen Marcus Humke spielerisch trainieren, mit ihren starken, manchmal überbordenden Gefühlen umzugehen. „Emotionale Selbstregulation“ heißt das im Fachjargon. Außerdem lernen sie, sich besser zu konzentrieren, den anderen zuzuhören und Rückfragen zu stellen. Nicht zuletzt wird gefragt, wie es ihnen geht. Wer nicht reden möchte, kann anhand von „Monster-Karten“ oder per Handzeichen ausdrücken, wie es im Innersten aussieht.
Teenager werden oft „übersehen“
Einen blinden Fleck gibt es allerdings: „Teenager sind die am meisten übersehene Gruppe in der Pandemie“, sagt Yusuf Sarim. „Abgesehen von Einzelberatungen ist für sie bei uns bisher nichts angeboten worden.“ Das sei eine Frage der Kapazitäten. In der nächsten Zeit wird eine fünfte Berater-Stelle besetzt. Eine weitere ist für den 1. Januar 2022 vorgesehen.
Verständnis ist gefragt
Was sich die Berater*innen für ihre Klient*innen wünschen? „Normalität“, antworten sie übereinstimmend. Außerdem Verständnis für Familien und nicht zuletzt für Kinder, die im Unterricht etwas länger brauchen.