„Wir haben in Deutschland ein grassierendes, immer dramatischer werdendes Wohnungsproblem“, sagt Jan Sassenberg von der Wohnungslosenhilfe der Diakonie Gütersloh. Um darauf aufmerksam zu machen, organisierte sein Team zusammen mit der Evangelischen Kirchengemeinde Gütersloh und der karitativen Friseur-Vereinigung „Barber Angels Brotherhood e. V.“ die Aktion „Wohnungs-los“ in der Gütersloher Fußgängerzone. Dort ließen sich 20 wohnungslose und von Armut betroffenen Menschen von den „Friseur-Engeln“ kostenlos die Haare schneiden. „Denn ein Haarschnitt ist für Personen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, leider ein teurer Luxus geworden“, so Jan Sassenberg.
Mit handwerklichem Talent Menschen glücklich machen
Dies war bereits die zweite Veranstaltung mit den „Barber Angels“ in Gütersloh. In ihrer schlicht schwarzen Kleidung begegnen sie den Gästen, wie sie ihre Kundschaft nennen, auf Augenhöhe. Einzige Besonderheit: eine schwarze Lederweste mit dem Emblem der Bruderschaft.
Uwe Kennemund ist „Zenturio“ beziehungsweise Gebietsleiter der Sektion Ostwestfalen-Lippe. Weshalb er sich mit Schere und Rasierer sozial engagiert? „Ich habe nicht genug Geld, um Bedürftige finanziell zu unterstützen, aber der liebe Gott hat mir ein Talent gegeben: das Haareschneiden. Damit möchte ich diese Menschen glücklich machen.“
Das Selbstwertgefühl stärken – auch das ist ein erklärtes Ziel der ehrenamtlich tätigen Friseure. Bei ihrem Gast Christopher scheint das an diesem Tag gelungen zu sein: Seit Monaten hatte er keinen Friseursalon mehr betreten. Nun hofft er, „dass mir der Haarschnitt eine bessere Chance in Gesprächen mit Vermietern bietet, damit ich endlich eine Wohnung finde.“
Die Situation in Deutschland
Wie viele Menschen ohne eigene Bleibe dastehen, zeigen folgende Zahlen: Rund 178.100 Menschen lebten zum Stichtag 31. Januar 2022 in Notunterkünften und anderen Einrichtungen, so die Information aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Weitere 49.300 Menschen galten als verdeckt wohnungslos und etwa 37.400 Menschen lebten auf der Straße oder in Behelfsunterkünften.
Zudem droht vielen Bürgerinnen und Bürgern der Verlust ihrer Wohnung. „Wer erst einmal wohnungslos ist, hat kaum noch Chancen, eine neue Wohnung zu beziehen“, berichtet Jan Sassenberg. Gründe seien vor allem der ständig schrumpfende Bestand an Sozialwohnungen, die Ukraine-Krise und die inflationsbedingte Verschiebung der Armutsgrenze.
Immer mehr Wohnungen fallen aus Mietpreisbindung
So werde sich im Kreis Gütersloh der Bestand an mietpreisgebundene Wohnungsbestand in den nächsten zehn Jahren praktisch halbieren, wenn keine neuen Sozialwohnungen gebaut werden. Das gehe aus dem Wohnungsmarktbericht 2021 der NRW.Bank hervor (Bestand 2021: 5.494 Sozialwohnungen, Prognose für 2030: 2.690 Wohnungen).
Ein ähnlich dramatisches Bild zeichnet sich für das Stadtgebiet Gütersloh ab, wie Jan Sassenberg erläutert: „Trotz Neubau sind in den vergangenen zehn Jahren fast 500 Wohnungen aus der Mietpreisbindung gefallen. Bis 2031 werden weitere rund 1.000 der noch bestehenden 2.500 Sozialwohnungen aus der Bindung gelöst.“
In Gütersloh sind vor allem Alleinstehende betroffen
In der Stadt Gütersloh betrifft die Wohnungsknappheit vor allem alleinstehende Menschen. „Selbst eine günstige 50 Quadratmeter große Wohnung kostet zurzeit im Schnitt 460 bis 500 Euro Kaltmiete einschließlich Betriebskosten. Das Jobcenter erlaubt aber nur 431 Euro Bruttokaltmiete“, rechnet der Leiter der Wohnungslosenhilfe vor. „Für Menschen im Bürgergeld steht daher immer weniger bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung.“ Die Wohnungslosenhilfe sage deshalb: „Wir brauchen mehr sozialen Wohnraum, denn Wohnen ist ein Menschenrecht!“
Zahlen, Daten und Fakten zur Wohnungslosenhilfe in Gütersloh
Seit mehr als 30 Jahren engagiert sich die Wohnungslosenhilfe der Diakonie Gütersloh für Menschen, die von Wohnungsnot betroffen sind. „Im Jahr 2022 konnte durch unsere Hilfestellung in 35 Fällen Wohnungslosigkeit überwunden werden“, berichtet Jan Sassenberg.
Unterkunft und Hilfe für bis zu 40 Menschen bietet das betreute Wohnen der Diakonie mit seinen 18 Wohnplätzen. In den stadtnah gelegenen Wohngemeinschaften und Einzelappartements können Menschen in sozialen Notlagen, aus der Haft Entlassene und Menschen mit Sucht- und psychischen Problemen wieder Fuß fassen und einen Neustart wagen. „Hinzu kommen Dutzende von Menschen mit sozialen Schwierigkeiten, die wir ambulant unterstützen, um so den Wohnungsverlust zu verhindern“, so Jan Sassenberg weiter.
Die Fachberatungsstelle der Diakonie Gütersloh hat im vergangenen Jahr über 500 Hilfesuchende beraten. Ein neuer Höchstwert – vor zehn Jahren waren es noch knapp 300 Menschen. „Es gibt weit mehr Beratungsanfragen, als wir annehmen können“, so Jan Sassenberg. „Die Wartezeit für Beratungsgespräche und Postanmeldungen beträgt leider oft bis zu zwei Wochen.“
Pro Jahr stellen die Beraterinnen und Berater der Diakonie über 600 postalische Erreichbarkeitserklärungen aus. Durch diese Postadressen können jedes Jahr mehr als 400 Menschen Sozialleistungen beantragen.
1.100 Beratungsgespräche wurden im vergangenen Jahr dokumentiert und statistisch erfasst. Die Gesamtzahl der sogenannten Klienten-Kontakte liegt sogar bei über 3.000. Denn Kurzberatungen, Postausgaben, Telefonate und Gespräche im „Café Kanne“ bleiben in Gütersloh bisher undokumentiert.
Fotos: © Diakonie Gütersloh