„Die Pflegereform hat gute Ansätze“, sagt Björn Neßler, aktuell Vorsitzender der AG Wofa sowie Vorstand des Diakonie Gütersloh e.V. „Zum Beispiel müssen Pflegedienstleister ihre Mitarbeitenden künftig nach Tarif oder nach Tarifhöhe bezahlen.“ Dies sorge auch für Wettbewerbsgleichheit zwischen den Anbietern mit und ohne Tarif. „Insofern begrüßen wir auch die Vorgabe, dass die Kostenträger unsere Tariflöhne in Zukunft vollumfänglich akzeptieren müssen. Hier sind wir in der Vergangenheit etwa bei den Kassen auch schon einmal gegen geschlossene Türen gelaufen.“
Es gebe jedoch ein großes Aber: „Mit der jüngst verabschiedeten Pflegereform hat die Bundesregierung die Chance vertan, das System grundlegend zu reformieren“, so Neßler. In Sachen Deckelung der Eigenanteile sei der Gesetzgeber zu zaghaft vorgegangen und Berufsgruppen wie Betreuungs- oder Hauswirtschaftskräfte kämen in der aktuellen Diskussion gar nicht vor. „Aber auch die sind aus dem Pflegealltag nicht wegzudenken und sorgen dafür, dass ‚der Laden läuft‘ und es den Pflegebedürftigen gutgeht“, betont Neßler.
Als „halbherzig“ bezeichnet auch Julia Stegt die Pflegereform des Bundes. Stegt ist stellvertretende Vorsitzende der AG Wofa sowie Geschäftsführerin des Paritätischen Kreis Gütersloh. „Der Gesetzesbeschluss sieht weder eine angemessene Begrenzung noch eine echte Deckelung der Eigenanteile vor“, so Stegt. Stattdessen sei lediglich ein Zuschuss in der vollstationären Pflege vorgesehen, der im ersten Jahr fünf Prozent auf reine Pflegeleistungen betrage. Bei einem Eigenanteil von beispielsweise 900 EUR mache das gerade einmal 45 Euro im Monat aus. Sonstige Kosten, etwa für Unterkunft und Verpflegung, kämen noch in voller Höhe hinzu. „Ein Tropfen auf den heißen Stein also“, kritisiert Stegt. Auch die Zuzahlungen im ambulanten Bereich reichten bei Weitem nicht aus.
„Das System umkehren“
„Wir müssen das System daher komplett umkehren“, fordert Burkhard Kankowski, Geschäftsführer des Vereins Daheim. „Es kann nicht sein, dass steigende Kosten für Löhne, Nahrung, Unterkunft oder anderes an den Pflegebedürftigen oder ihren Angehörigen hängen bleiben. Uns schwebt hier eher eine Art Kasko-Versicherung vor – mit festgeschriebenen Eigenanteilen. Steigende Kosten müssten dann über die Pflegeversicherung abgedeckt werden.“ Ohnehin seien die in der Pflegereform neu definierten und stark unterschiedlich gestaffelten Zuschüsse viel zu kompliziert. „Welcher Pflegebedürftige soll da noch durchsteigen?“, fragt er.
Apropos Eigenanteile: Deren Bedeutung werde man bald auch anhand der Folgen des aktuellen Urteils des Bundesarbeitsgerichts bemerken, führt Volker Brüggenjürgen, Vorstand Caritasverband für den Kreis Gütersloh, weiter aus. Dieses hatte jüngst entschieden, dass auch Pflegekräfte aus dem Ausland, die in der häuslichen 24-Stunden-Versorgung arbeiten, ein Anrecht auf Mindestlohn haben. Zwar werde das Urteil die bisweilen mittelalterlich anmutenden Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte aus dem Ausland beenden. Es werde aber auch die enorme Versorgungslücke im Bereich der Pflege rund um die Uhr aufdecken, wenn Pflegebedürftige ihre Pflege nicht mehr bezahlen können, so Brüggenjürgen.
In der Pflegereform als solches habe der Bund auch verpasst, die Arbeitsbedingungen in der Pflege entscheidend zu verbessern – allen voran den knappen Personalschlüssel, kritisieren des Weiteren Dennis Schwoch und Ilka Mähler, Vorstände DRK-Kreisverband Gütersloh. „Die Arbeitsbedingungen sind das eigentliche Problem, wenn es darum geht, Mitarbeitende in der Pflege zu halten.“ Kern der Pflegereform hätte eine wissenschaftlich fundierte, bundeseinheitliche Personalbemessung sein müssen – etwa anhand des auch in der Politik bekannten Rothgang-Gutachtens. Dieses habe jedoch nicht den Weg in die Pflegereform gefunden. Schwoch und Mähler: „Nur wenn wir die Pflege mit mehr Personal ausstatten, kann es uns gelingen den Beruf attraktiver zu machen und die Rahmenbedingungen nachhaltig zu verbessern.“
Vor diesem Hintergrund formuliert die AG Wofa ihre Forderungen an die künftige Bundesregierung.
- Eine entschiedene Reform der Pflegeversicherung, die das System grundlegend saniert und auch Mitarbeitende aus Betreuung, Begleitung, Hauswirtschaft und Reinigung mitdenkt
- Dazu gehört eine stärkere Deckelung oder sogar Festschreibung der Eigenanteile für Pflegebedürftige bei folglich steigenden Zuschüssen der Pflegeversicherung.
- Mehr Personal für Pflege und Betreuung
- Eine deutliche Entlastung von pflegenden Angehörigen – nicht nur durch bessere Begleitung, sondern auch finanziell – z. B. durch Lohnersatzzahlungen oder Rentenversicherungsansprüche während der Pflegezeit
- Vorantreiben der Digitalisierung in der Pflege
- Pflege ist mehr als der vollstationäre Bereich: Auch andere Pflegeformen müssen unterstützt, verzahnt und weiterentwickelt werden, um künftigen Bedarf abzudecken.
„Unsere Forderungen sind natürlich nicht ohne, das wissen wir“, sagt AG-Wofa-Vorsitzender Björn Neßler. „Aber der demografische Wandel ist ebenso ein Fakt wie der Fachkräftemangel. Wir müssen jetzt reagieren, wenn uns das System nicht schon in wenigen Jahren auf die Füße fallen soll.“
Infokasten: Die AG Wohlfahrt
Die AG Wohlfahrt ist eine Arbeitsgemeinschaft von sechs gemeinnützigen Wohlfahrtsverbänden im Kreis Gütersloh. Dazu gehören: der AWO Kreisverband Gütersloh, der Caritasverband für den Kreis Gütersloh, der DRK Kreisverband Gütersloh, die Diakonie Gütersloh, die Diakonie Halle sowie der Paritätische Kreis Gütersloh.
Die Mitglieder der AG Wofa fordern eine entschiedenere Pflegereform (v.l.): Björn Neßler (Diakonie Gütersloh), Julia Stegt (Paritätischer), Burkhard Kankowski (Verein daheim), Ilka Mähler (DRK), Dennis Schwoch (DRK) und Volker Brüggenjürgen © Oliver Lömker